03. März 2020 / Baurecht | Planungsrecht | Natur- und Umweltrecht
Abweichungen von Abstandsflächen nach § 6 LBauO M-V

Weitere Leitsätze der Entscheidung:

2. Allein die Eckgrundstückslage begründet keine atypische Grundstückssituation. Eine solche liegt jedoch vor, wenn an einer der beiden aufeinander treffenden Straßen ein Bauplatz vorhanden ist, die Grundstückstiefe aber nicht ausreicht, um einen dem Rahmen der Umgebungsbebauung entsprechenden Baukörper zu errichten.

3. Bei der weiter erforderlichen Würdigung der wechselseitigen Interessen hat derjenige, der sich auf die gesetzliche Lage berufen kann, grundsätzlich einen gewissen Vorrang (Bestätigung der bisherigen Rechtsprechung).

4. Auf Seiten des Bauherrn ist von Bedeutung, inwieweit eine angemessene bauliche Ausnutzung des Bauplatzes auch ohne Verletzung von Abstandflächen möglich ist. Dabei ist zu bedenken, dass auch eine den Rahmen der Umgebungsbebauung unterschreitende Bebauung sich nach § 34 I BauGB einfügen kann. Eine maximale bauliche Ausnutzung kann nicht verlangt werden. Auf Seiten des Nachbarn ist zu berücksichtigen, inwieweit die Schutzzwecke des Abstandflächenrechts im konkreten Fall tatsächlich berührt sind.

Aus den Gründen:

a) Das Vorhaben steht mit den Vorschriften des nachbarschützenden Abstandflächenrechts gem.§ 6MVBauO nicht in Einklang.

Nach§ 6 I 1 MVBauO sind vor den Außenwänden von Gebäuden Abstandflächen von oberirdischen Gebäuden freizuhalten. Diese müssen auf dem Grundstück selbst liegen,§ 6 II 1 MVBauO. Die Tiefe der Abstandfläche beträgt 0,4 H, mindestens aber 3 m, wobei das Maß H der Wandhöhe von der Geländeoberfläche bis zum Schnittpunkt der Wand mit der Dachhaut oder bis zum oberen Abschluss der Wand entspricht (§ 6 IV 1, V 1 MVBauO).

Die rückwärtige Außenwand des genehmigten Vorhabens ist mit einer Höhe von 13,62 m vorgesehen und löst deshalb zum Grundstück der Ast. hin gem. § 6 IV 1 MVBauO eine Abstandfläche von 13,62 m x 0,4 = 5,45 m aus. Die Bemessung mit 5,36 m im Lageplan vom 5.12.2018 ist unzutreffend. Diese muss gem. § 6 I 1, II 1 MVBauO auf dem Baugrundstück selbst liegen. Der südliche Gebäudeteil ist jedoch mit einem Abstand von nur zwischen 2,60 m und 3,21 m von der Grenze zum Grundstück der Ast. vorgesehen. Der Vortrag der Ast., das geplante Vorhaben würde bis auf 2,20 m an die gemeinsame Grundstücksgrenze heranrücken, ist nach den für die Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung allein maßgeblichen Bauvorlagen nicht nachvollziehbar.

Der Fall, dass gem. § 6 I 3 MVBauO eine Abstandfläche nicht erforderlich ist, liegt nicht vor. Weder muss oder darf nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grundstücksgrenze gebaut werden (§ 6 I 3 Nr. 1 MVBauO), noch sind nach der umgebenden Bebauung iSd § 34 I 1 BauGB abweichende Gebäudeabstände zulässig (§ 6 I 3 Nr. 2 MVBauO).

Abweichung ist rechtswidrig

b) Die erteilte Abweichung stellt sich als rechtswidrig dar.

Nach § 67 I MVBauO kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen von Anforderungen der Landesbauordnung zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit den öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des § 3 I MVBauO vereinbar sind. Auch die Erteilung einer Abweichung von den Vorschriften des Abstandflächenrechts ist nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Sie setzt aber einen Sachverhalt voraus, der von dem der gesetzlichen Regelung der Abstandflächen zugrunde liegenden Normalfall in so deutlichem Maß abweicht, dass die strikte Anwendung des Gesetzes zu Ergebnissen führt, die der Zielrichtung der Norm nicht entsprechen. Dabei muss es sich um eine grundstücksbezogene Atypik handeln. § 67 MVBauO ist kein Instrument zur Legalisierung gewöhnlicher Rechtsverletzungen. Diese grundstücksbezogene Atypik kann ua in einem außergewöhnlichen Grundstückszuschnitt liegen, der für eine Bebauung, die sich an diesem Standort auch nach der Bebauung der näheren Umgebung als angemessen darstellt, (zu) wenig Raum lässt (OVG Greifswald, Urt. v. 4.12.2013 – 3 L 143/10, BeckRS 2014, 50109; NVwZ-RR 2015, 94 Ls. = BeckRS 2014, 58542). In Betracht kommt aber auch eine aus dem Rahmen fallende Bebauung auf dem Bau- oder dem Nachbargrundstück oder eine besondere städtebauliche Situation (vgl.VGH München, NVwZ-RR 2008, 84).

Grundstücksbezogene Atypik ermitteln

aa) Der Ag. geht zu Recht davon aus, dass das Grundstück des Beigel. zu 1 eine solche grundstücksbezogene Atypik aufweist. Allerdings entspricht der Zuschnitt des Grundstücks in etwa dem der westlich benachbarten Grundstücke entlang der G.-Straße und lässt auch in entsprechendem Umfang eine Bebauung zu, die mit dem Bestandsgebäude G.-Straße 20 bereits realisiert ist. Da es sich um ein Eckgrundstück in einem Quartier mit geschlossener Bebauung handelt, gibt es auf dem Grundstück jedoch – anders als auf den Nachbargrundstücken – ein weiteres Baufeld. Allein die Eigenschaft als Eckgrundstück begründet dabei noch keine atypische Grundstückssituation. Maßgeblich ist aber, dass die Grundstückstiefe von der E.-Straße aus gesehen nicht ausreicht, um ein dem Rahmen der dortigen benachbarten Bebauung entsprechendes Gebäude zu errichten, das die von den südlich anschließenden Hauptbaukörpern vorgegebene geschlossene Bauweise, Höhe und rückwärtige Baulinie aufnimmt und gleichzeitig gegenüber dem rückwärtig anschließenden Grundstück der Ast. die Abstandflächen einhält.

Dass eine rückwärtige Baulinie auf der Westseite der E.-Straße nicht erkennbar wäre, trifft nicht zu. Alle Hauptbaukörper reichen bis in eine einheitliche Grundstückstiefe, dh die rückwärtigen Fassaden liegen auf einer Linie. Dass an mehrere Häuser rückwärtig Balkonanlagen angebaut sind, ändert daran nichts, auch wenn diese nach ihren Abmessungen den Vorgaben des § 23 II 2 BauNVO nicht entsprechen. Die Vorschrift regelt, unter welchen Voraussetzungen Abweichungen von einer im Bebauungsplan festgesetzten Baulinie zugelassen werden können. Das tatsächliche Vorhandensein größerer Abweichungen steht der Annahme einer faktischen Baulinie jedoch nicht entgegen. Allgemein kommt es bei der Beurteilung des Einfügens nach § 34 I BauGB auf die nach außen wahrnehmbare Erscheinung eines Gebäudes im Verhältnis zu seiner Umgebungsbebauung und nicht auf Feinheiten von Berechnungsregeln an, weshalb auch bei den Kriterien des Maßes der Bebauung auf diejenigen Faktoren abzustellen ist, die nach außen wahrnehmbar in Erscheinung treten und in denen die prägende Wirkung besonders zum Ausdruck kommt (vgl.BVerwGE 95, 277 =NVwZ 1994, 1006 = NJW 1994, 3309 Ls., stRspr; s. a. zB BVerwG, Beschl. v. 3.4.2014 – 4 B 12/14, BeckRS 2014, 50979 mwN). Die von der Ast. vorgelegten Fotos belegen deutlich den Eindruck einer rückwärtigen faktischen Baulinie.

Die rückwärtige Baulinie auf der Westseite der E.-Straße erfasst auch das Baufeld. Dass allgemein mit prägender Wirkung in der näheren Umgebung auf bzw. neben den Eckgrundstücken der geschlossen bebauten Quartiere eine Bebauung entweder gänzlich fehlen oder nicht in die für die Nachbargrundstücke von einer Baulinie vorgegebene Tiefe reichen würde, ist nicht ersichtlich. Auf die Entstehungsgeschichte der Bebauung kommt es dabei nicht an. Soweit die Bebauung in den Eckbereichen rückwärtig gegenüber der Nachbarbebauung zurückspringt, also weniger tief ist, wird damit ggf. Rücksichtnahmeanforderungen auf im unmittelbaren Eckbereich bereits vorhandene Bebauung – wie mit dem Rücksprung im nördlichen Teil des streitigen Vorhabens gegenüber dem Gebäude G.-Straße 20 – entsprochen (vgl.OVG Greifswald, NVwZ-RR 2015, 202).

Hinzu kommt, dass sich das Baugrundstück von Norden nach Süden verjüngt, so dass ein ggf. die Abstandflächen einhaltender nördlicher Teil der Bebauung im Baufeld nicht entsprechend parallel zur E.-Straße nach Süden fortgesetzt werden kann, ohne die Abstandflächen zu verletzen; nur im südlichen Teil verläuft zudem die faktische rückwärtige Baulinie in einem Abstand von weniger als 3 m von der Grundstücksgrenze.

Interessenabwägung erforderlich

bb) Damit steht aber nicht zugleich fest, dass eine Abweichung erteilt werden kann. Erforderlich ist eine Würdigung der Interessen des Bauherrn an der Erteilung der Abweichung und – wie § 67 MVBauO ausdrücklich vorschreibt – der Interessen des betroffenen Nachbarn an der Einhaltung der prinzipiellen Vorschrift des Bauordnungsrechts und damit an einer Verhinderung von Beeinträchtigungen oder Nachteilen durch eine Abweichung. Dabei hat derjenige, der sich auf die gesetzliche Lage berufen kann, bei der Interessenabwägung grundsätzlich einen gewissen Vorrang (vgl. OVG Greifswald, NVwZ-RR 2018, 958). Diesen Grundsatz hat der Ag. bei seiner Entscheidung über die Erteilung einer Abweichung nicht hinreichend beachtet. Eine umfassende Würdigung der wechselseitigen Interessen wäre aber Voraussetzung für eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Erteilung einer Abweichung.

Eine Abweichung von den Vorschriften des Abstandflächenrechts kann nicht mit der Begründung gerechtfertigt werden, dass den Bauherren die maximale planungsrechtlich zulässige bauliche Ausnutzung seines Grundstücks ermöglicht werden soll. Der Fall, dass im Hinblick auf den Zuschnitt des Vorhabengrundstücks eine dem Rahmen der Umgebungsbebauung entsprechende bauliche Nutzung anderenfalls überhaupt nicht sinnvoll möglich wäre (vgl.OVG Greifswald, NVwZ-RR 2015, 202), liegt hier im Hinblick auf die Grundstückstiefe von 13,15 m auch an der südlichen Grundstücksgrenze nicht vor. Eine angemessene bauliche Nutzung des Bauplatzes wäre daher auch mit geringeren Gebäudeabmessungen möglich, beispielsweise indem das Gebäude auch in seinem südlichen Teil nur mit einer Tiefe von 9 m errichtet würde. Welche städtebaulichen Gründe einer solchen Bebauung entgegen stehen würden, hat der Ag. nicht näher ausgeführt. Er hat sich insbesondere nicht mit der Frage befasst, ob nicht auch eine gegenüber dem Bestand in der näheren Umgebung reduzierte Bebauung sich ausnahmsweise nach § 34 I BauGB einfügt, weil sie keine bodenrechtlich beachtlichen Spannungen begründet und im Hinblick auf die Besonderheit der Eckgrundstückslage keine Vorbildwirkung besitzt. Was die Gebäudehöhe angeht, mag allerdings eine Fortsetzung der straßenseitigen Höhe auch auf dem Baugrundstück städtebaulich sachgerecht sein, soweit die Nachbarbebauung entlang der E.-Straße diese vorgibt. Daraus ergibt sich aber nicht zugleich, dass diese Höhe auch rückwärtig erreicht werden muss; vielmehr könnten die oberen Geschosse als Staffelgeschosse ausgebildet werden. Würde das Gebäude beispielsweise lediglich bis einschließlich des zweiten Obergeschosses in der vollen Tiefe errichtet, würde die sich ergebende rückwärtige Gebäudehöhe von 8,93 m nur noch eine Abstandfläche von 3,57 m auslösen. Bei der Frage der Angemessenheit einer hinsichtlich Grundfläche und/oder Geschossfläche reduzierten baulichen Ausnutzung des Standortes ist auch zu berücksichtigen, ob dem Beigel. umgekehrt bereits mit einer den Rahmen der Umgebungsbebauung überschreitenden Geschossigkeit seines Vorhabens entgegenkommen wird. Die Varianten einer reduzierten, aber gleichwohl im Hinblick auf die Ausnutzung des Baugrundstücks und unter städtebaulichen Gesichtspunkten angemessenen Bebauung hat der Ag. offenbar nicht bedacht und sich nicht mit der Frage befasst, ob und inwieweit dadurch den von den Vorschriften des Abstandflächenrechts geschützten Belangen der Ast. in spürbarer Weise besser Rechnung getragen werden könnte.

Bei der Bewertung der Interessen der Ast. als betroffener Nachbarin ist zu berücksichtigen, dass die Schutzzwecke des Abstandflächenrechts – nämlich die Interessen an ausreichender Belichtung, Belüftung und Besonnung sowie der Wahrung eines angemessenen Sozialabstandes – bereits im Hinblick auf die Nähe des Vorhabens zum Gebäude der Ast. und die geringe Größe der Gartenfläche auf deren Grundstück konkret berührt sind. Hinzu kommt, dass es sich um ein besonders enges Quartier mit auf der Südseite der G.-Straße nur vier Bauplätzen zwischen den Querstraßen H.-Straße und E.-Straße handelt, ferner dass das Gebäude der Ast. bereits durch das rückwärtig unmittelbar an die Gartenfläche auf ihrem Grundstück angrenzende mehrgeschossige Hofgebäude E.-Straße 1 belastet ist, dessen nach ihren Angaben etwa 13 m breite und etwa 9 m hohe geschlossene Seitenwand der gartenseitigen Fassade des Gebäudes der Ast. gegenüber liegt, sowie dass das Gebäude der Ast. unter Denkmalschutz steht, weshalb größere Veränderungen des Gebäudes zwecks besserer Belichtung der Innenräume nicht in Betracht kommen dürften.

Autor: Professor Dr. Karsten Simoneit

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Professor Dr. Karsten Simoneit

Professor Dr. Karsten Simoneit
Honorarprofessor an der Hochschule Wismar

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